ICH-VERLAG

Gesichtsbuch

Kuh

Es war einmal eine Kuh namens Käthy, die träumte, eine Opernsängerin zu sein. Sie sang die schönsten Kompositionen in allen Tonlagen und riss das Publikum jedes Mal zu Begeisterungsstürmen hin. Ausserdem war sie durchaus vielseitig. Mal sang sie laute und fröhliche Arien wobei sie mit den Hufen ruderte und mit dem Euter im Takt wippte, dann sang sie Klagelieder, wobei sie die Gefühle mit dicken Kuhtränen in den Augen verstärkte. Ihre „Muh’s“ waren unerreicht. Jeder liebte sie, weil endlich alle verstanden, was in der Oper gesungen wurde. Keine Kuh hatte jemals eine solche Berühmtheit erlangt. Sie war der Gesprächsstoff landein, landaus.

Doch eines Tages, als sie wieder einmal bei einer ausverkauften Aufführung ihre Gesangskünste zum Besten gab, sah sie vor ihrem Auftritt einen hübschen Zucht-Bullen in der ersten Reihe sitzen. Seine grossen, braunen Augen und das elegant nach vorne gebürstete Fell waren zuviel Männlichkeit für die sonst so gefasste Käthy. Sie hatte tatsächlich das erste Mal in ihrem Leben Lampenfieber. Als sich der Vorhang hob und das Orchester zu spielen begann, schlotterten ihr die Knie. Doch sie wollte sich nichts anmerken lassen und gleich mit einem gewaltigen „Muh“ ihre Unsicherheit überspielen. Sie holte tief Luft und nahm sich vor, den ersten Ton mit ihrer weltbekannten Bauchstimme herauszupressen. Doch leider entwich der aufgebaute Druck am falschen Ort. Mitten auf der Bühne dampfte jetzt zu ihrem Entsetzen ein grosser, dicker Kuhfladen. Käthy erstarrte auf der Stelle und blickte mit hochrotem Kopf in die Menge.

kuh

Das Publikum war mucksmäuschenstill. Alle schauten immer wieder abwechslungsweise zu Käthy und dann wieder zum Sitznachbarn, um auch wirklich sicher zu gehen, dass dies nicht zum Programm gehörte. Nach einem kurzen Augenblick hörte man zuerst nur ein leises Gekicher, welches sich aber schnell zu einem saalfüllenden Gelächter ausbreitete. Die Menge lag vor Lachen quer in den Stühlen und konnte sich kaum erholen. Der Platzanweiser, welcher sich prustend am Vorhang festhielt, wischte sich die Tränen mit seinem roten Taschentuch weg. Dies bemerkte der Bulle in der ersten Reihe. Er sah rot, schnellte hoch und rannte wutschnaubend durch die Sitzreihen auf den Platzanweiser zu. Das Gelächter verstummte schlagartig und verwandelte sich in ängstliches Geschrei. Die Leute flüchteten panisch zum Ausgang, um ins Freie zu gelangen. Einige Besucher versuchten sich auf der Bühne in Sicherheit zu bringen und rissen dabei den Vorhang nieder. Dieser fiel auf die immer noch erstarrte Käthy und sie verschwand darunter.
Da erwachte Käthy schweissgebadet in ihrem Stall. Sie schnaufte tief durch und trottete verwirrt hinaus auf die Wiese. Da waren schon alle anderen Kühe am Grasen. Als sie nach einer Weile wieder ihr „Muh“ anstimmte, war sie erleichtert. Erstens, weil die anderen Kühe sie deswegen nicht gross beachteten und zweitens, weil sie sah, wie ihr der der Bulle aus dem Nebengehege freundlich zuzwinkerte.